Mittwoch, 4. März 2009

Ecstasy Project und Sing Sing Penelope – verbunden durch Interesse für Lyrisches


Rafal Gorzycki (Foto: PR/R.G.)

Auf der Suche nach dem eigenen Ausdruck, nach der Musik, mit der man sich wohl fühlt und eins ist, die aber – wie sich manchmal herausstellt – von der Außenwelt als etwas Spezielles, Unübliches, Besonderes empfunden wird: Perkussionist und Komponist Rafal Gorzycki aus Polen fühlte sich am Ende der neunziger Jahre zwar von Steve Coleman und den M-Base-Sachen oder Miles Davis angeregt, aber sein 1998 neugegründetes „Ecstasy Project“ ließ von Anbeginn weit mehr als bloß das Stapfen in den großen Fußspuren der Überamerikaner erkennen.

Schon damals verstand Gorzycki es, eine im Sound magisch-rockig wirkende Gitarre mit der aggressiven Kraft einer sirrenden Violine und seinem luftig-energischen Drumming so zu verbinden, dass man auch beim zweiten Hinhören Vorbilder nicht sofort benennen konnte; die Musik der ersten Ecstasy-Project-CD hatte, bis auf den letzten Titel „Look“, wenig von Blues und Soul, sondern viel von der Zerklüftetheit europäischer Stadtkulturen.

In veränderter Besetzung (neben Gorzycki am Schlagzeug noch der ab da als Stamm-Bassist fungierende Patryk Węcławek, der Geiger Łukasza Górewicz und der Elektroniker und Flötist Tomasz Pawlicki, Erster Flötist der Nationaloper Bydgoszcz und einer der europäischen Top-Flötisten) präsentierte das Projekt nach einer Pause von etwa fünf Jahren mit „Realium“ eine dämonisch wirkende Musik, die Penderecki-artige Klangteppiche, Minimal Music und Trip Hop mit fragil-jazzigen Perkussionsmustern verband. Vielleicht auch mitgeprägt vom Interesse, das Gorzycki mittlerweile für die Ästhetik des ECM-Labels und für europäische Kammermusik des 20. Jahrhunderts entwickelt hatte. „Ich höre seither eigentlich kaum noch Jazz, sondern so gut wie nur noch Klassik und Kammermusik, und um Inspirationen zu bekommen, sowieso nicht. Da habe ich meine eigene Sprache gefunden“, sagt Rafal Gorzycki.

Wenn auch die weltweit führende Internet-Jazzplattform Allaboutjazz diese Scheibe als wegweisend empfahl – in Deutschland wurde sie kaum wahrgenommen.

„Ich arbeitete über ein Jahr an diesem Album“, sagt Rafal Gorzycki, „und ich hatte die Absicht, eine Art von Melancholie zu beschreiben. Ich legte Visionen frei, die während meines Aufenthaltes auf dem Lande aufschienen. Das ist europäischer Jazz, wie ich ihn mag.“

Diese Musik verdeutlichte ein ausgeprägtes Faible Gorzyckis für melancholische, weit gebogte Melodien und zarte, präzise geschlagene Rhythmen. Die beiden ersten CDs gemeinsam machten aber vor allem auch klar, dass Rafal Gorzycki ein Ensemble-Mensch ist, dass er willens und in der Lage ist, sich durch ein von ihm zusammengestelltes Ensemble auszudrücken.

Diese kreative Fähigkeit nutzt Rafal seither konsequent – einerseits durch die Weiterentwicklung seines Ecstasy-Project-Konzeptes, andererseits im Rahmen seiner Arbeit mit seiner Jazzband Sing Sing Penelope. „Was beide Ensembles miteinander verbindet“, betont Gorzycki, „ist das gemeinsame Interesse an der lyrischen, romantischen Seite von Musik generell.“

Im Unterschied zum Ecstasy Project, für das ausschließlich Gorzycki komponiert und das von ihm allein geleitet wird, beteiligen sich sämtliche Mitglieder von Sing Sing Penelope an der Entstehung der Stücke und führen das Ensemble als Kollektiv. Die Gruppe gründete sich 2001; wie das Ecstasy Project handelt es sich auch hier um ein Zusammenschluss von Musikern, die eng an den Klub „Mozg“ (dt.: „Hirn“) in Bydgoszcz gebunden sind, den eine internationale Zeitschrift als einen der kreativsten Orte der letzten Jahre bezeichnet haben soll.
Auch bei Sing Sing Penelope vergingen ein paar Jahre bis zu den Aufnahmen der ersten CD („Sing Sing Penelope“, aufgenommen Mitte 2004, veröffentlicht 2005), im Mai 2006 folgte dann „Music for Umbrellas“, im Februar 2008 schließlich erschien „We remember Krzesełko“.

Die Musik auf allen drei CDs besticht durch „Luftigkeit“ im Sound, durch kollektive Improvisationen, die auf Klangflächigkeit und lyrisches Flair orientiert sind, und durch ein dynamisches, ausgeprägt melodisches Ensemblespiel, wenngleich Melodien häufig partikularisiert werden und erst aus einem Gesamteindruck heraus zur Wirkung kommen. Vor allem in die Musik der 2008-er Scheibe mischen sich häufiger elektronische Klänge, die entfernt an Trip Hop oder an sphärische Elektronikmusik mit Melancholie-Klima erinnern.

Ausgeprägt zeitgenössisch jazzig, immer wieder durchsetzt von freieren Improvisationen, wirkt die aktuelle Einspielung „Stirli People – in Jazzga“, bei der der Trompeter Andrzej Przybielski als Gast mitwirkt.
Unter polnischen Musikern gilt Przybielski als einer der größten Trompeter Europas, in Deutschlands Jazzöffentlichkeit hat er sich bisher trotz einiger Auftritte kaum einen Namen gemacht.
Älteren eingefleischten Fans aber ist er bekannt durch sein Spiel auf den 1972 erschienenen Alben „Niemen Vol. I“ und „Niemen Vol. II“. Dort bestach er – gemeinsam mit Helmut Nadolski am Bass – durch sein atmosphärisches Spiel. Andrzej Przybielski war an über dreißig auch internationalen Aufnahmen beteiligt, aber unter seinem eigenen Namen hat er bisher keine einzige Platte veröffentlicht. Mit seinem Spiel voller Schattierungen und motivischer Einfälle sowie seinen kompositorischen Beiträgen auf der aktuellen SSP-Scheibe unterstreicht Przybielski, dass eine eigene CD nach Jahrzehnten exquisiter Musikantenarbeit längst fällig wäre.

Für Sing Sing Penelope ist dieses Gemeinschaftsprojekt ein Gewinn, erhält die Band doch neue Impulse; jetzt schon wirkt die SSP-Musik lebendiger und befreiender denn je.

Unterdessen bereitet Rafal Gorzycki die Premiere eines neuen Solo-Projektes vor: „Trio Poems“. Gemeinsam mit Dawid Szczesny und Krzysztof Nowinski erschafft der polnische Ausnahmekünstler Klänge für menschliche Stimme, Electronics und Perkussion zu Dichtung des 20. Jahrhunderts.

Übrigens: Die letzten beiden CDs des Ecstasy Projects („Europae“ und „Reminiscence Europae“) zeigen verschiedene Detailaufnahmen des Viaduc de Millau, der längsten und höchsten Schrägseilbrücke der Welt in Südfrankreich. Dieses faszinierende Bauwerk befindet sich auf der A75 von Paris nach Barcelona auf dem Abschnitt von Clermont-Ferrand nach Béziers 5 km westlich der französischen Stadt Millau. Die Brücke überspannt das Tal des Tarn. - Vielleicht sagt dies mit seiner Symbolkraft etwas über Rafal Gorzyckis Kunst als „Musiker, der zwei Welten überbrückt“ aus - unabhängig von der Ästhetik, die die Fotos vermitteln mögen.

Mathias Bäumel


Viaduc de Millau (Foto: Michael Bittdorfer)

PS.: Gorzycki tritt mit Sing Sing Penelope und dem Ecstasy Project am 27. März 2009 in Dresden zu einem Doppelkonzert beim JAZZWELTEN-Festival auf.

Für alle, die von den Konzerten des Contemporary Noise Quintetts (CNQ) / Sextetts begeistert waren: Mit Tomek Glazik, Wojtek Jachna und Patryk Węcławek musizieren drei der CNQ-Mitglieder auch bei Sing Sing Penelope.

Dienstag, 3. März 2009

Pago Libres FAKE FOLK: The True Story Of Original Fake Folk Music

Pago Libre (Foto: Mark Nussbaumer/www.pagolibre.com).

Pago Libre hat ein neues Programm, dessen Deutschlandpremiere zum JAZZWELTEN-Festival am 28. März 2009 in Dresden stattfindet. John Wolf Brennan macht auf dieses Programm neugierig:

Jeder der vier Musiker von Pago Libre steht in einer musikalischen Tradition; keiner von uns jedoch kann in seiner Familie einen archaisch jodelnden Bergbauern, Original Wiener Heurigensänger, chassidischen Klezmer-Geiger oder Balalaika spielenden Kosaken vorweisen. Mit einem Wort: Um unsere volkstümliche Authentizität ist es schlecht bestellt.


Wenn uns nun aber nach unseren Anfängen in der europäischen Kunst-, Kammer-, Pop- und Jazzmusik die Faszination exotischer Volksmusiken nachhaltig geprägt hatte? Wenn uns dadurch seit vielen Jahren eine volksmusikalisch inspirierte, musikantische Spielweise so ans Herz gewachsen war? Woher sollten wir unsere Authentizität nehmen?

Kann man Authentizität imitieren? Wenn ja, ist das Ergebnis jedenfalls automatisch genau das Gegenteil von authentisch. Nein, wir mussten uns unsere Authentizität schon selbst erarbeiten!
Also schritten wir zur Erschaffung unserer individuellen Volksmusik: Anstatt die Musik unserer Vorfahren zu ergründen, betrachteten wir unsere eigene musikalische Entwicklung (ja, wir sind alt genug, um gemeinsam auf fast 190 Jahre persönliche Musikgeschichte zurückblicken zu können!); anstatt die Melodien fremder Länder aufzuzeichnen, erforschten wir die Musik der weitgehend unbekannten Völker, die seit Jahrzehnten in unseren Eingeweiden, in unseren Herzkammern und unter unseren Schädeldecken hausen.

Da die so entstandenen Musikstücke in ihrem musikantischen Zugriff und ihren zwar komplexen, aber immer tänzerischen Rhythmen nicht selten an bereits existierende Folk-Stile erinnern, darf mit einigem Recht behauptet werden, Pago Libre spiele gefälschte Volksmusik, „Fake Folk“ also. Wir sagen: Es ist unsere persönliche Originalmusik, „Original Fake Folk“ gewissermaßen!
Natürlich ist „Fake Folk“ auch „Weltmusik“, global orientiert, allen Einflüssen offen – und gleichzeitig doch auch das Gegenteil davon, nämlich kompromisslose Individual-Musik.

Und schließlich ist es eine Volksmusik, deren Volk vorerst nur aus vier Personen besteht …
Original Fake, Individual Global, Volksmusik ohne Volk: paradox ist das in jedem Fall, aber soooo schön!!

John Wolf Brennan

Konzert zu den JAZZWELTEN Dresden hier.

Montag, 2. März 2009

Ein Fahrrad macht Musik


„Es ist doch niederschmetternd“, sagt der eine zum anderen, „dass man immer wieder ausgerechnet mit dürftiger Musik finanziell erfolgreich ist... Da muss doch irgendetwas grundsätzlich schieflaufen.“ - „Naja“, murmelt der andere zur Antwort, „das kenne ich...“ ... Seine Worte versickern, er beginnt zu schweigen.

Und die Blicke schweifen in die Ferne.

Zu hören: nichts. Fast nichts. Nur ein leises, auf- und abschwellendes Zischeln der schwappenden Wellen, durchbrochen vom kaum wahrnehmbaren rhythmischen Quietschen eines Fahrrades, dessen Fahrer sich durch die Hitze des Uferweges quält.

Truffaz - von Entdeckungen keine Spur


Ich habe einen sehr guten Freund. Der pflegt, wenn die Situation passt, immer mal wieder folgende Weisheit von sich zu geben: „Die einen sagen so, die anderen sagen so...“ Das traf wohl auch auf das Konzert von Erik Truffaz am 28. Februar 2009 in Dresden zu - wirtschaftlich ein guter Erfolg für den veranstaltenden Jazzclub Neue Tonne, musikalisch grenzte der Auftritt an seelische Grausamkeit. Eine von den Harmonie-Folgen her eindimensionale, um nicht zu sagen langweilige Musik, gebaut nach immmer denselben Wiederholungsmustern, ein Schlagzeuger, der dermaßen rumpel-pumpel trommelte, dass jedwede Differenziertheit auf der Strecke blieb (wie schlimm würde es um die französische Kulturnation stehen, wenn die Internetseite salzburg.com mit ihrer Behauptung wirklich recht hätte, Philippe „Pipon“ Garcia sei „zweifelsohne“ einer der besten Drummer Frankreichs) und ein Trompetenspiel, das sich mit Sound und Aufbau der Soli auf ein entindividualisiertes Durchschnittsmaß einpegelte. - Kurz: Mitwipp-Unterhaltungsmusik im Hiphop-Gewand, von Entdeckungen keine Spur. Und genau dazu sagen die einen „Hurrah!“ und die anderen „Buuuh!“ ...