Mittwoch, 4. Februar 2015

»Hungarian Jazz Rhapsody«: Mihály Borbély bietet Hingabe und Substanz

Wie sagte einst meine ungarisch-jüdische Nenn-Oma aus Budapest auf meine Frage, wieso es bei ihr immer so gut schmecke? »Nun, man darf nicht nur mit Liebe kochen – man muss auch ein paar Zutaten hineingeben!« Diese ernst gemeinte, aber schalkhaft vorgetragene Weisheit hat mein Leben bisher mitgeprägt. Die Nenn-Oma liegt längst auf jenem jüdischen Friedhof in Budapest, auf dem auch der Komponist des Liedes vom traurigen Sonntag, Rezsö Seress, liegt, und ich selbst bin seither immer wieder auf der Suche nach der Verbindung beider Aspekte: Hingebung und Substanz – auch im Rahmen meines Interesses für Jazz.

Nun wurde ich diesbezüglich wieder einmal fündig. Und – wieder einmal – in der Musik des ungarischen Saxofonisten und Tárogató-Spielers Mihály Borbély. Der hat, nach seinen großen Würfen, den Veröffentlichungen »Hommage à Kodály« und »Meselia Hill«, nun ein Album herausgebracht, das sich unter dem beziehungsreichen und von Attila Zoller stammenden Namen »Hungarian Jazz Rhapsody« einigen Kompositionen der ungarischen Populärmusik zuwendet, älteren und nicht so alten.

»Várj, Míg Felkel Majd A Nap« (Wait till the sun comes up) ist eine Rockhymne aus der Feder der beiden Musiker Ferenc Demjén und István Lerch von der Band V’Moto-Rock. Der Song erschien 1994 und wurde im Laufe der Jahre immer wieder von verschiedenen Gruppen und Solisten neu eingespielt, auch auf englisch. Weitere auf der CD enthaltene Rockstücke, möglicherweise mit für die ungarische Musikszene noch weit größerer Bedeutung, sind »Ezüst Nyár« (Silver summer) und »Ringasd el magad« (Rock yourself) der Band Locomotiv GT von den ersten beiden LPs dieser Band aus den Jahren 1971 und 1972.

Borbély greift für sein Projekt auch filmbezogene Musik auf. Es gibt eine jazzige, aber sehr kongeniale Interpretation des Kulthits »Szomorú Vasárnap« (Gloomy Sunday) von Rezsö Seress (der Große Israelitische Friedhof an der Budapester Kozma-Straße lässt wieder grüßen!), die in den Song »Látod, ez a szerelem« (See, this is love) von Tamás Deák übergeht. Interessant: Der 1928 geborene Trompeter, Komponist und Bandleader Deák schuf diesen Ohrwurm, ein typischer, Charleston-haltiger und an-geswingter Bar-Bretterknaller, noch bevor er für Zeichentrickfilme wie die hierzulande bekannten »Nu, pogodi!«, »Gustav« und »Adolars fantastische Abenteuer« komponierte.

Und schließlich interpretiert hier die Borbély-Band auch moderne Jazzkompositionen wie Attila Zollers titelgebende »Hungarian Jazz Rhapsody«, Kálmán Olahs »Polymodal Blues« und – ein Vertreter des freieren ungarischen Jazz – Karoly Binders »In illo tempore« von der 1985-er Solo-Platte des Pianisten.

Manchmal, so begründet Borbély seine Musikauswahl für diese CD, erweise sich erst nach Jahrzehnten, dass gewisse Momente viel wichtiger sind als man zum Zeitpunkt ihres Auftauchens zunächst dachte und fühlte. Damit erinnert mich Borbély zwar auch an die Koch-(Lebens-)Weisheit der Nenn-Oma, vor allem aber daran, wie reichhaltig auch die Populärmusik des kleinen Ungarns war und ist. Mit jazz-improvisatorischer Hingebung machen Borbély und seine Musiker auf der CD die Substanz dieser Songs hörbar, die alle, zumindest aus der Innensicht, zutiefst zu Ungarn gehören. Ohne die Souveränität als Komponist und Arrangeur, vor allem aber ohne die improvisatorischen Fähigkeiten des Bläsers Borbely, dessen Ästhetik rasende Glissandi ebenso einbezieht wie gewagte, folkloristisch wirkende Melismen, wäre dieses Unternehmen »Neu-Entdeckung« nicht denkbar. – Eine CD für Geschichtsbewusste, die »olle Kamellen« nicht mehr hören können, und für Moment-Junkies, die einen musikalischen Reichtum unbelasted von irgendwelchen »Vorgaben« genießen wollen.

Mathias Bäumel

Mihály Borbély Quartet: »Hungarian Jazz Rhapsody«, BMC Records CD 187 / nrw vertrieb