Freitag, 20. Februar 2015

Der Saxstall in Pohrsdorf westlich von Dresden – ein Jazz-Zentrum der besonderen Art

Eckard Schleiermacher vor einem kleinen Teil seiner Sammlunng. Foto: Hans-Joachim Maquet

Der Mann ist sax-besessen! Im Jahre 1995 kaufte er sein erstes Saxofon, und seit 2000 begann er, Devotionalien zum Thema Saxofon zu sammeln: Von der Briefmarke, Postkarte, großformatigen Porträtbildern vieler berühmter Saxofonisten des Schnellmalers John Fröhlich (USA) auf Acryl, Fotoalben, Zeitungsartikel, Plakate, Tonträger, Grammofone, Schellackplatten, Accessoires, Filme, etwa 500 (!) verschiedene kleine Figuren, bis hin zu wertvollen Saxofonen ist seither eine riesengroße, skurril wirkende Sammlung entstanden! Doch der Sammler, Eckard Schleiermacher, beruflich als Apotheker tätig, frönt dem Saxofon nicht nur mittels seiner ausufernden Kollektion, sondern auch praktisch als Musiker. Eckard spielt Baritonsaxofon: manchmal in der Heidenauer Drugmiller’s Bigband (unter Leitung von Dietmar Pester, Kammervirtuos der Dresdner Philharmonie), später in der Bigband des Heinrich-Schütz-Konservatoriums Dresden bzw. in der Dresden Bigband, und er ist Mitbegründer der deutschen Apotheker Big Band. Spätestens an diesem Punkt kreuzten sich seine Wege mit denen des Jazzclubs Tonne. Die musizierenden Apotheker mischten den Dresdner Jazzclub zu dessen Konzertwochenende »Jazz hält gesund – Mediziner spielen Jazz« am 27. Juni 2003 auf. Mal ganz abgesehen davon, dass Eckard Schleiermacher mit seinem eigenen Saxofonspiel, vor allem jedoch mit Exponaten seiner Sammlung, ein stets gern gesehener Gast bei den »Dresdner Saxophon-Messen« war und ist, die der Instrumentenbau Walsch gemeinsam mit dem Jazzclub Tonne seit 1992 alle zwei Jahre veranstaltet.

Doch dem Eckard Schleiermacher – sein jüngerer Bruder Steffen ist ein international bekannter Komponist, sein Sohn Johannes ein renommierter junger Jazz-Saxofonist – war das noch längst nicht genug der »Saxofonie«. Es musste eine eigene Spielstätte und damit auch ein charmanter Ausstellungsort für die Schleiermacher’sche Sammlung her!

Der in einem Vierseithof in Pohrsdorf am Nordrand des Tharandter Waldes wohnende Sax-Fanatiker begann, dafür seinen alten Schweinestall umzubauen; dessen letzter Bewohner wurde 2006 geschlachtet, dann hatte die »Ferkelei« ein Ende. Im Jahre 2008 wurde aus dem Grunzen ein »Tröten«, denn damals starteten die ersten Musikauftritte noch im privaten Kreis, seit 2011 laufen die Veranstaltungen als öffentliche Konzerte. Mittlerweile ist das sage und schreibe 350. Konzert (!) Geschichte, insgesamt traten bisher etwa 700 Musiker aus etwa dreißig Ländern im Saxstall, wie das Etablissement seither heißt, auf.

Unter diesen Musikern sind solche aus der Region Dresden wie auch Größen auf internationaler Ebene, Berliner Avantgardisten wie auch Gäste aus dem Ausland. »Wir bieten eine Bühne für viele Projekte«, sagt Schleiermacher. Dies sei wichtig für die Musiker aus der sächsischen Hauptstadt, die wegen der kurzen Anfahrtswege häufiger, aber auch gern hier auftreten. »Doch auch Musiker aus der Ferne können hier mit Genuss spielen.«

Die Konzerte kosten keinen Eintritt, jedoch die Gäste spenden wohlwollend und je nach persönlichem Vermögen jeder sein Sümmchen, um diese einmalige Konzertbühne am Leben zu erhalten. Was dann noch fehlt, zahlt Eckard Schleiermacher privat drauf.
»Es gibt Leute, die noch komischere Hobbys haben als ich«, schmunzelt der »saxophile« Apotheker. Das Ganze funktioniert also wie eine Art »überdachte Straßenmusik«, und tatsächlich kommt es bei gutem Wetter auch immer wieder zu Straßenmusik im Hof vor dem Saxstall; unter der ausladenden Krone eines riesigen Walnussbaumes traten schon Größen wie Gunter Hampel auf.

Stilistisch ist in Pohrsdorf fast alles möglich, die Freude am Musizieren steht im Vordergrund: Freejazz, Hardbop, Kammermusik, Swing, Ethno, freie Improvisationsmusik, Experimentelles aus den Gebieten zwischen Musik, Lyrik und Theater. Der Nestor des Dresdner Modern Jazz, Peter Setzmann, konzertiert hier ebenso wie blutjunge, noch im Studium befindliche Musikanten, US-Größen wie die Tiptons oder Gunter Hampel ebenso wie Gebhard Ullmanns Klarinettentrio, der Saxophon-Actor Dietmar Diesner oder der böhmische Über-Pianist Emil Viklicky mit Scott Robinson.

Konzert im Saxstall mit Uli Gumpert und Silke Eberhardt. Foto: Hans-Joachim Maquet

Die Atmosphäre ist urgemütlich, Sofas, Sessel und Stuben-Stühle für die Besucher, dazwischen ältere Tische aus früheren guten Stuben oder zur Ablage umgebaute Nähmaschinen, ein Tresen fürs flüssige Gold, im Stubenumlauf über den Fensterbögen Ablage-Boards für einige der Sammlerstücke.
»Der Saxstall ist einer der schönsten Auftrittsorte im Großraum Dresden«, hebt der Posaunist Günter Heinz hervor. »Ich spiele sehr gern dort, weil einfach alles stimmt: ein freundlicher, nahezu familiärer Empfang, gute Musik in schöner Atmosphäre mit hervorragender Sammlung von Instrumenten und immer wieder ein aufgeschlossenes Publikum.« Viele weitere Musiker heben den Charme dieser Spielstätte hervor. »Die Atmosphäre hier ist ganz besonders, ich spiele deswegen sehr gern hier«, sagt der Dresdner Schlagzeuger Matthias Peuker. »Der Eckard Schleiermacher, ein Musikverrückter, ist ein sehr spezieller, sympathischer Typ. Schon wenn man Stunden vor dem Konzert von diesem familiären Klima mit Kaffee und Kuchen umsorgt wird, fühlt man sich einfach wohl. Und das Publikum ist immer interessiert, begeistert und begeisternd!« Dabei sei es sowieso ein Wunder, wie viele Leute in diesem dörflichen Umkreis den Weg in den Pohrsdorfer Saxstall finden!

Der Saxstall hat längst sein Stammpublikum und ein Einzugsgebiet, das von Freiberg bis Dresden, von Altenberg bis Döbeln reicht. »Unter meinem Pohrsdorfer Publikum habe ich neben Musikkennern, die auch anderweitig viele Konzerte besuchen, so beispielsweise ehemalige Musiklehrerinnen oder hier wohnende Professoren im Ruhestand, auch nicht wenige, die sonst kaum auf den Gedanken kämen, ein Jazzkonzert zu besuchen, eben Nachbarn und Freunde«, sagt Eckard Schleiermacher. Die kämen, weil im Dorf etwas los ist. Da freue es ihn besonders, wenn neben seiner eigenen Schwiegermutter weitere Bauersfrauen im Alter von Mitte siebzig bis achtzig auf dem Sofa sitzen und eine hinterher meint: »Ich verstehe ja eigentlich nichts davon, aber es war wieder richtig schön. Nee, wie die spielen können, diese jungen Leute, schön, dass du das hier machst, Ecki.«

Und dass nicht nur aus allen Himmelsrichtungen anreisende Jazzfans, sondern auch die Einwohner der Gegend rund um Pohrsdorf begeistert sind, erkennt man auch daran, dass die Leute dort mit »saxmax« ein eigenes Saxofonensemble auf die Beine gestellt haben, das – natürlich – von Eckard Schleiermacher geleitet wird und das schon zu vielen Gelegenheiten, auch in Dresden, aufgetreten ist.

Mathias Bäumel

(Ein herzliches Dankeschön an Hans-Joachim Maquet für seine Hilfe!)

Das nächste Konzert im Saxstall:
Sonnabend, 21. Februar 2015 (17 Uhr):
Friedhelm Schönfeld Quartett (Berlin)
Friedhelm Schönfeld, Saxofon; Rolf von Nordensköld, Saxofon; Gerhard »Kubi« Kubach, Bass; Ernst Bier; Schlagzeug.

01737 Pohrsdorf bei Tharandt bei Dresden
Dorfstraße 87

http://www.saxstall.de








Mittwoch, 4. Februar 2015

»Hungarian Jazz Rhapsody«: Mihály Borbély bietet Hingabe und Substanz

Wie sagte einst meine ungarisch-jüdische Nenn-Oma aus Budapest auf meine Frage, wieso es bei ihr immer so gut schmecke? »Nun, man darf nicht nur mit Liebe kochen – man muss auch ein paar Zutaten hineingeben!« Diese ernst gemeinte, aber schalkhaft vorgetragene Weisheit hat mein Leben bisher mitgeprägt. Die Nenn-Oma liegt längst auf jenem jüdischen Friedhof in Budapest, auf dem auch der Komponist des Liedes vom traurigen Sonntag, Rezsö Seress, liegt, und ich selbst bin seither immer wieder auf der Suche nach der Verbindung beider Aspekte: Hingebung und Substanz – auch im Rahmen meines Interesses für Jazz.

Nun wurde ich diesbezüglich wieder einmal fündig. Und – wieder einmal – in der Musik des ungarischen Saxofonisten und Tárogató-Spielers Mihály Borbély. Der hat, nach seinen großen Würfen, den Veröffentlichungen »Hommage à Kodály« und »Meselia Hill«, nun ein Album herausgebracht, das sich unter dem beziehungsreichen und von Attila Zoller stammenden Namen »Hungarian Jazz Rhapsody« einigen Kompositionen der ungarischen Populärmusik zuwendet, älteren und nicht so alten.

»Várj, Míg Felkel Majd A Nap« (Wait till the sun comes up) ist eine Rockhymne aus der Feder der beiden Musiker Ferenc Demjén und István Lerch von der Band V’Moto-Rock. Der Song erschien 1994 und wurde im Laufe der Jahre immer wieder von verschiedenen Gruppen und Solisten neu eingespielt, auch auf englisch. Weitere auf der CD enthaltene Rockstücke, möglicherweise mit für die ungarische Musikszene noch weit größerer Bedeutung, sind »Ezüst Nyár« (Silver summer) und »Ringasd el magad« (Rock yourself) der Band Locomotiv GT von den ersten beiden LPs dieser Band aus den Jahren 1971 und 1972.

Borbély greift für sein Projekt auch filmbezogene Musik auf. Es gibt eine jazzige, aber sehr kongeniale Interpretation des Kulthits »Szomorú Vasárnap« (Gloomy Sunday) von Rezsö Seress (der Große Israelitische Friedhof an der Budapester Kozma-Straße lässt wieder grüßen!), die in den Song »Látod, ez a szerelem« (See, this is love) von Tamás Deák übergeht. Interessant: Der 1928 geborene Trompeter, Komponist und Bandleader Deák schuf diesen Ohrwurm, ein typischer, Charleston-haltiger und an-geswingter Bar-Bretterknaller, noch bevor er für Zeichentrickfilme wie die hierzulande bekannten »Nu, pogodi!«, »Gustav« und »Adolars fantastische Abenteuer« komponierte.

Und schließlich interpretiert hier die Borbély-Band auch moderne Jazzkompositionen wie Attila Zollers titelgebende »Hungarian Jazz Rhapsody«, Kálmán Olahs »Polymodal Blues« und – ein Vertreter des freieren ungarischen Jazz – Karoly Binders »In illo tempore« von der 1985-er Solo-Platte des Pianisten.

Manchmal, so begründet Borbély seine Musikauswahl für diese CD, erweise sich erst nach Jahrzehnten, dass gewisse Momente viel wichtiger sind als man zum Zeitpunkt ihres Auftauchens zunächst dachte und fühlte. Damit erinnert mich Borbély zwar auch an die Koch-(Lebens-)Weisheit der Nenn-Oma, vor allem aber daran, wie reichhaltig auch die Populärmusik des kleinen Ungarns war und ist. Mit jazz-improvisatorischer Hingebung machen Borbély und seine Musiker auf der CD die Substanz dieser Songs hörbar, die alle, zumindest aus der Innensicht, zutiefst zu Ungarn gehören. Ohne die Souveränität als Komponist und Arrangeur, vor allem aber ohne die improvisatorischen Fähigkeiten des Bläsers Borbely, dessen Ästhetik rasende Glissandi ebenso einbezieht wie gewagte, folkloristisch wirkende Melismen, wäre dieses Unternehmen »Neu-Entdeckung« nicht denkbar. – Eine CD für Geschichtsbewusste, die »olle Kamellen« nicht mehr hören können, und für Moment-Junkies, die einen musikalischen Reichtum unbelasted von irgendwelchen »Vorgaben« genießen wollen.

Mathias Bäumel

Mihály Borbély Quartet: »Hungarian Jazz Rhapsody«, BMC Records CD 187 / nrw vertrieb