Freitag, 5. Dezember 2008

Von der Sprengung der normativen Jazzästhetik

Vor 35 Jahren begeisterte Synopsis in Warschau die europäische Jazz-Szene


Das Zentralquartett 1994. (Foto: Matthias Creutziger)

Ein Jubiläum steht an. Und zwar eines, das auf das vielleicht folgenreichste Konzert verweist, das eine DDR-Jazz-Band je gegeben hatte. Vor 35 Jahren, im Oktober 1973, gab die Ostberliner Band Synopsis ein Konzert im Rahmen des Festivals Jazz Jamboree in Warschau.

Die Ur-Besetzung von "Synopsis" - anfangs noch als Ulrich Gumpert Quartett firmierend - bestand aus der Rhythmusgruppe der damaligen Kultband SOK. Mitglieder waren Günter Baby Sommer (Drums), Gert Lübke (Bassgitarre), Günter Dobrowolski (Gitarre), und Ulrich Gumpert (E-Piano).

Dieses Quartett spielte um 1972 herum einige Konzerte und es nahm während eines Konzertes in der "Großen Melodie" am 11. September 1972 einige eigene Titel auf, gemeinsam mit Ernst-Ludwig "Luten" Petrowsky.

Mit diesem Band bewarben sich Uli Gumpert und Baby Sommer im Oktober 1972 in Warschau beim Jazz Jamboree für 1973. "Eigentlich", so Baby Sommer heute verschmitzt, "dachte ich zuerst und vor allem an Willis Conover, den in Warschau ich zu treffen hoffte." Conover war verantwortlicher Moderator der auch im Ausland sehr populären Voice of America Jazz Hour bzw. Music USA des US-Rundfunksenders "Voice of America". Conover war zwar in den USA kaum bekannt, dafür aber eine sehr einflussreiche und bekannte Persönlichkeit in Osteuropa. Sommer damals zu Gumpert: "Im Radioprogramm von Voice of America gespielt zu werden, das wäre doch was!" Doch Gumpert bremste etwas und meinte, ein Auftritt beim Jazz Jamboree in Warschau sei schon viel - und übergab das Band dem Festivalveranstalter. Und tatsächlich: Synopsis wurde für 1973 eingeladen!

In den Monaten darauf veränderte sich aber die Besetzung von Synopsis. Gert Lübke und Günter Dobrowolski schieden aus. "Sie konnten dem Drängen nach freieren Spielweisen von Uli und mir nicht folgen, die beiden waren eher auf Muggen zum Geldverdienen orientiert, wir dagegen wollten radikalere und eigene improvisierte Musik machen", erinnert sich nach etwa 35 Jahren Baby Sommer. Gert Lübke sieht das im September 2008 ähnlich. "Ich hatte acht Personen zu ernähren, und mit diesem Jazz konnte man nicht gerade Geld verdienen... So hatte ich mich um weitere Verdienstmöglichkeiten gekümmert, hatte viel im Rundfunk zu tun, auch bei Jo Kurzweg, so dass ich bei Synopsis nicht mehr mitmachen konnte." Schließlich gingen Lübke und Dobrowolski ganz zum Orchester Jo Kurzweg (dem Orchester des DDR-Fernsehens), das auch viele erfolgreiche Amiga-LPs herausgab, und Conny Bauer sowie "Luten" Petrowsky stiegen stattdessen bei Synopsis ein. - Die sogenannte Originalbesetzung von Synopsis (was ja, genau genommen, nicht stimmt) war geboren.

Logisch, dass die Veranstalter des Jazz Jamboree-Festivals 1973 zunächst sehr skeptisch waren, denn sie waren überrascht nicht nur von der aktuellen, sich von den Bewerbungsunterlagen unterscheidenden Besetzung - Conny Bauer, Posaune; Uli Gumpert, Piano; Ernst-Ludwig Petrowsky, Altsax; Baby Sommer, Drums -, sondern auch vom radikalen Freejazz der Gruppe, mit dem die Polen keinesfalls gerechnet hatten.

Das Publikum, zu dem auch viele aus aller Herren Länder angereiste Jazzfans gehörten, aber feierte das ostdeutsche Quartett frenetisch. Die Konsequenzen: die internationale Jazz-Welt, für die das Warschauer Jazz Jamboree stets eine Bühne für Jazz aus realsozialistischen Ländern war (und für die Musiker von da immer auch ein Sprungbrett in die internationale Bedeutsamkeit), schaute plötzlich auf die Freejazzer aus der DDR, anerkannte schrittweise deren Bemühen, freie Improvisationen mit den hiesigen, deutschen Volksmusiktraditionen zu verbinden und nahm auf diese Weise den europäischen Freien Jazz insgesamt mehr in den Blick.
Es kam für Synopsis zu Einladungen, zur Zusammenarbeit mit westeuropäischen Spitzenmusikern und zu immer mehr internationalen Auftritten der Synopsis-Musiker. Vor allem befruchtete dieser "Urknall" die Herausbildung einer spezifisch europäischen Improvisationsmusik und ermöglichte eine immer intensiver werdende Kooperation mit westdeutschen Kollegen.
Dieser wirklich "bahnbrechend" zu nennende Erfolg von Synopsis im Herbst 1973 führte auch dazu, dass die offizielle DDR-Kulturpolitik den Freejazz im eigenen Land als international anerkannt wahrnehmen und ihre eigenen Auffassungen zu Gut und Schlecht in der Musik revidieren musste. Synopsis 1973 in Warschau - das initiierte nicht mehr und nicht weniger als einen Paradigmenwechsel in der DDR-, ja: gesamtdeutschen, vielleicht sogar europäischen Jazzkultur.

Wie so häufig im Bereich der DDR-Jazz- und Rockmusik: der Rundfunk der DDR reagierte schneller als die Schallplatte. Schon am 5. und 6. März 1974 nahm Synopsis im Rundfunk-Studio fünf Titel auf, die archiviert und teils gesendet wurden. Doch der Erfolg rief auch Amiga auf den Plan - diesmal schnell: Das Quartett nahm im Studio des DDR-Schallplattenlabels am 22. und 23. April sechs Stücke auf, die noch 1974 auf der ersten Synopsis-LP erschienen.
Free Music Production (FMP) in Westberlin kaufte die fünf Aufnahmen des Rundfunks der DDR und veröffentlichte sie - ebenfalls noch 1974 - als LP mit dem Titel "Auf der Elbe schwimmt ein rosa Krokodil".
1975 verließ Conny Bauer die Band, um seine eigene Gruppe FEZ zu gründen (mit Hannes Zerbe, p; Joe Sachse, g; Christoph Niemann, b; Peter Gröning, dr), ersetzt wurde er bei Synopsis durch den Bassisten Klaus Koch.
Dieses Quartett konnte ein 1977 in Mittweida stattfindendes Konzert mitschneiden, das erst 1996 durch das Engagement von Uli Gumpert und den FMP-Leuten auf dem Privat-Label Syn als CD "Synopsis'77 - Live in Mittweida" herauskam.
Um 1978 löste sich die Band zunächst auf - zu viele verschiedene Projekte, Angebote und Tourneen wollten bewältigt sein...

Erst 1984 kam es zu einer Wiedergründung - auf Initiative Baby Sommers anlässlich einer Konzertreihe in Paris, diesmal jedoch unter dem Namen "Zentralquartett". Die für das französische Label "nato" eingespielte LP "Ascenseur Pour Le 28" (nato 329) firmiert auf dem Cover als "Günter Sommer et trois vieux amis", was die treibende Rolle Sommers für das Quartett nur unterstreicht.
Unmittelbar nach der Wende erschien auf dem Amiga-Nachfolger Zong die nächste LP (die erste unter diesem neuen Namen), die später - ebenso wie das "Rosa Krokodil" - auf dem schweizerischen Intakt-Label als CD wiederveröffentlicht wurde. Seither legte die "Viererbande" bis in die Gegenwart auf Intakt Records noch drei weitere CDs vor: "Plié", "Careless Love" und "11 Songs - Aus Teutschen Landen".

Bert Noglik stellte vor fünf Jahren, zum dreißigsten Geburtstag der Band, fest: "Von ‚Synopsis´ zum ‚Zentralquartett´: der Zusammenschluss von vier Individualisten zu einer musikalisch-konspirativen Vereinigung, Initialzündung und Assoziationskette: Mutig wurde eine normative Jazzästhetik aufgesprengt, das Panorama des freien Spiels ausgeschritten und das vermeintliche Vakuum mit gestaltbildender Kraft ausgefüllt." Dies gilt heute immer noch. Und Noglik weiter: "Diese Band kündete von einem neuen Selbstbewusstsein, das gewissermaßen in ständiger Reibung mit der Enge der Verhältnisse, der Behauptung gegenüber Bevormundung, im Austausch mit der internationalen improvisierten Musik und in Tuchfühlung mit der heimischen Zuhörerschaft gewachsen war."
Das dies auch heute noch zu spüren und dass eine solche Musik gerade auch heute wieder nötig ist - davon kann sich jeder Musikfreund am 20. Dezember 2008 zum Zentralquartett-Konzert im Jazzclub Neue Tonne Dresden überzeugen.

Nachbemerkung zur Geschichte:
Lübke und Dobrowolski spielten zunächst weiterhin auch bei SOK, schließlich gingen beide nach der Auflösung von SOK 1975 ganz zum Orchester Jo Kurzweg.

Günter Dobrowolski - 1968 gemeinsam mit anderen Gründungsmitglied des Modern Septetts Berlin, später Modern Soul - bekam schon bei Jo Kurzweg Probleme mit seinem eigenen Tabletten- und Alkohol-Konsum, schließlich flog er dort aus der Band und hatte es - obwohl ein guter Gitarrist - immer schwerer, Arbeit zu finden. Vor einigen Jahren nahm sich Günter Dobrowolksi das Leben.


Der mittlerweile über 70 Jahre alte Gert Lübke arbeitet vor allem in und um Berlin immer noch als Bassist und Bassgitarrist in verschiedenen Bands, darunter regelmäßig bei Acki Hoffmann & Friends im Berliner Jazz- und Bluesschuppen "Yorckschlösschen". Was jedoch nicht ausschließt, dass Lübkes Name auch immer wieder bei größeren Formationen wie der Jazz Bigband Berlin und der Swing Collection Berlin auftaucht. "Ich bin froh, dass ich gesundheitlich gesehen noch ganz gut dabei bin, noch spielen kann", so Lübke am Telefon. Er sei eben ein "Telefonmusiker", der heute von diesem, morgen von jenem angerufen werde, wenn ein versierter Bassist gebraucht wird.