Montag, 26. August 2013

Baby Sommers Œuvre als Thema eines »raumtheoretischen« Mammutwerkes


Raumbezogene Analyse von Musik: Der Musiker Oliver Schwerdt macht Baby Sommers Œuvre zum Thema eines »raumtheoretischen« Mammutwerkes

Was nutzt eine wissenschaftliche Arbeit, wenn ihr Verfasser alles dafür tut, zwar nicht ihre Veröffentlichung, aber doch ihre Rezeption zu verhindern oder wenigstens so weit wie möglich zu erschweren? Was nutzt sie, wenn der Autor zahlreiche Hindernisse für das Verständnis seiner Überlegungen errichtet, so mit einer teils kryptischen Sprachlichkeit (die vorangegangene Magisterarbeit des Autors war an Georg Simmel orientiert), mit einer jedes Maß sprengenden Textmenge (die vielerorts zur Verweigerung der Annahme der Arbeit führen würde) und mit einer dem Wesen des Gegenstandes völlig widersprechenden Publikationskultur?

Der Leipziger Musiker Oliver Schwerdt hat eine überbordende Doktorarbeit geschrieben, die thematisch eng auf das Werk des Schlagzeugers und Jazzmusikers Günther Baby Sommer bezogen und die ausdrücklich dessen siebzigsten Geburtstag am 25. August 2013 gewidmet ist. Die originale Langfassung unter dem Titel »Baby Sommer XXL. Wie der Schlagzeuger mit dem Free Jazz den Raum bestellt« wurde im Herbst 2012 in sage und schreibe fünf Bänden mit insgesamt 2158 Seiten plus einer 50 Giga-Byte großen externen Festplatte mit 3000 Dateien veröffentlicht. Preis zusammen: 705 Euro. Das erschlägt einen!

Die Bände sind überschrieben mit »Navigation«, »Philosophie«, »Diskografie«, »Instrumentografie« und »Observation«. Allein die 801 Seiten umfassende und 149 Euro teure Diskografie entfaltet ein opulent ausdifferenziertes System von Registern, Indizes und erklärungsbedürftigen Abkürzungen – alles nur, um die Vielzahl der veröffentlichten Aufnahmen Baby Sommers systematisiert »abzubilden«. Aber: Jazz und freie Improvisationsmusik sind offene, dynamische, freigeistige, demokratische Musiksubkulturen – Untersuchungen und Dokumentationen zu ihnen gehören als Datenbank – für jedermann problemlos nutz-, also recherchierbar – ins Internet, nicht zwischen die Deckel eines von für den einzelnen Interessenten nicht erschwinglichen sowie digital nicht recherchier- und aktualisierbaren Papiermonsters.
Aus der Fußnote 2 der Diskografie – nur als Beispiel – gehen sowohl Schwerdts »wissenschaftliches« Verständnis als auch die Schwierigkeit, mit der mäandernden Darstellungsweise des Autors produktiv umzugehen, hervor. Er erläutert dort: »Dabei umfasst der Katalog bei 96 verschiedenen Aufnahmeterminen oder Einheiten von Aufnahmeterminen, also Hauptnummern, 127 verschiedene veröffentlichte Audio-Datenträger also Ausgaben – im Falle von 31 verschiedene Aufnahmeterminen oder Einheiten von Aufnahmeterminen gibt es 61 differierende Ausgaben –, welche dort als 138 Formulare für 138 Unternummern, dargestellt werden. Diese Differenz von 11 resultiert aus einer Versiebenfachung, einer Verdreifachung und drei Verdoppelungen jener 5 von 127 unterschiedlichen veröffentlichten Audio-Datenträgern, die mehrere erste Ausgaben oder Teile derselben zusammen veröffentlichen. Folgende 16 SOSGVVADT-Nummern kennzeichnen die selben veröffentlichten Audio-Datenträger: 0093=0102=0152=0192=0232=0272=0452, 0153=0162=0233, 0193=0222, 0262=0382, 0282=0312, diese 16 im Detail differierenden Formulare dokumentieren die 5 selben veröffentlichten Audio-Datenträger. Die Anzahl aller Objekte als Exemplare vervielfältigt veröffentlichter Audio-Datenträger, im engsten Sinne, ist ohne die Kenntnis der Auflagenhöhen aller veröffentlichter Audio-Datenträger im weiteren Sinne nicht ermittelbar.« Noch Fragen?

An anderer Stelle beschreibt Schwerdt, wie er die Diskografie erstellt hat – hier nur ein kleiner Ausschnitt: »Die Darstellung der Daten zu jedem einzelnen durch Günter Sommer aktiviertes Musik-Instrumentarium und die damit von ihm realisierten Spielweisen bis in meine Forschungsprojektdauer hinein hörbar dokumentierenden veröffentlichten Audio-Datenträger erfolgte auf der Grundlage der Erhebung der Daten und deren die Darstellung vorbereitenden Auswertung durch Ausführung des Katalogisierungsschemas des Formulars.«

Nach einem solch opulenten, 26-seitigem Anlaufnehmen beginnt schließlich die Übersicht der »veröffentlichten Audio-Datenträger« auf Seite 27 der Diskografie, deren detaillierte Beschreibung, bei der schier jede einzelne Angabe ausführlich und formal quellenzitiert wird, auf Seite 35. Ob hier die Affinität des Musikers Schwerdt zu Dada und damit auch die Suche von Sinn im Unsinn anklingt oder sich im Sinne von Hans Arp die Opposition gegen die »vorgeschriebene Form des deutschen Schulaufsatzes« manifestiert, muss dahingestellt bleiben.

Im Grunde genommen scheint es Schwerdt nicht vordergründig um eine in den üblichen Relationen von Biografie, Werk und Rezeption befangene Analyse von Sommers Werk zu gehen, sondern um einen Beitrag für ein Forschungsfeld, das er »raumtheoretische Deutung von Musik« nennt; Baby Sommer dient dem Verfasser lediglich als gut geeignet scheinendes, hier »durchexerziertes« Beispiel. Den wissenschaftlichen Wert der Fragestellung und der Ausführung dieser Arbeit vermag ich als Musikjournalist nicht zu beurteilen. Wer sich als Musikfreund für das Werk Baby Sommers interessiert, egal ob als Konzertbesucher, Platten- und CD-Sammler oder Jazzhistoriker, ist bei diesem Werk kaum an der richtigen Adresse.

Eine auf 52 Seiten sehr komprimierte Fassung der Arbeit Oliver Schwerdts gibt es unter dem Titel »Von einem, der auszog, seinem Schlagzeug das Fahren und Schweben zu lehren. Was aus raumtheoretischer Sicht dafür spricht, Günter Baby Sommer als Helden des Free Jazz zu ehren« für 14,99 Euro über www.euphorium.de .

Mathias Bäumel

Bild oben: PR/Website Euphorium, abgerufen 26.8.2013

Dies ist die ungekürzte Version eines Textes, der am 24. August 2013 in den Dresdner Neuesten Nachrichten erschien.