Donnerstag, 23. April 2009

„Byzantinum“ von Gábor Gadó – ein Fanal der Musikgeschichte


Gábor Gadó am 19. März 2005 in Dresden zum JAZZWELTEN-Festival. (Foto: Dietrich Flechtner)

Unbeirrbar, der Mann, der Mahner, der Musiker. Gitarrist Gábor Gadó stellt seine ausufernde, bizarr und tiefsinnig wirkende Musik auch diesmal wieder in einen Kontext historisch übergreifender gesellschaftlicher Grunddiagnosen. Sein aktuelles Album nennt er „Byzantinum“, typografisch verändert mit verdrehtem „z“. „z“ ist der letzte Buchstabe des Alphabets – das Ende ist also verdreht, verkehrt, falsch.

Byzantinum oder Byzantium meint jene antike Ansiedlung am südwestlichen Ausgang des Bosporus, die wegen ihrer günstigen Lage zwischen 326 und 330 vom römischen Kaiser Konstantin I. als neue Hauptstadt des römischen Reiches umgebaut wurde („Konstantinopel“). Byzanz als Symbol für zivilisatorischen Neubeginn und gleichermaßen Fortsetzungspunkt einer menschlichen Entwicklung ins Verderben, als symbolischer Ort für den Beginn der sogenannten konstantinischen Wende, in deren Verlauf aus der einst staatlich diskriminierten und phasenweise blutig verfolgten christlichen Kirche eine zunächst geduldete, dann rechtlich privilegierte Institution und schließlich durch Theodosius eine Reichskirche wurde.

Die vexierbildartige Gestaltung des Art-Smart-CD-Covers Yasar Merals und Gábor Bachmans könnte auf diese konstantinische Wende verweisen, sie zeigt auf der einen Seite eine antike Jagdszene, auf der anderen eine bedrohliche Jesus-Szene; gerade letztere deutet durch die Teufelsfiguren darauf hin, dass das Böse nicht Feind, sondern Kind des Christentums ist – eine Auffassung, die man in der Gadó’schen Symbolik nicht nur einmal findet.

Der CD beigelegt ist ein fiktiv apokryphischer Text zur Apokalypse des 21. Jahrhunderts, extra von Miklós Dolinszky, dem sicher bedeutendsten ungarischen Musikwissenschaftler der Gegenwart, in alt-ungarischen Sprache für „Byzantinum“ geschrieben. Dolinszky: „Als Musikwissenschaftler, dem auch literarische Interessen nicht fremd sind, habe ich mich für ein sprachliches Spiel entschieden, das die Sprache der ersten ungarischen Bibelübersetzung aus dem 16. Jahrhundert paraphrasiert (einige konkrete Zitate aus dem Alten Testament und aus Henry David Thoreaus „Walden. Oder das Leben in den Wäldern“ mit einbezogen), und das, obwohl es in direkter Weise mit Gábor Gadós Musik eigentlich nichts zu tun hat.“

Auch dieser Text beginnt mit der Aussage, dass das Böse, der Teufel, eine Folge der menschlichen Selbstapotheose ist. „Denn indem man sich selbst als Gott wahrnimmt, sagt man auch, dass der Teufel in der Welt existiert.“ Und weiter erinnert das Fragment daran, dass die Abwesenheit des Bösen nicht identisch mit dem Guten, die Abwesenheit des Teufels nicht dasselbe wie das Göttliche sei. Und der apokalyptische Text endet mit der Beschreibung des menschlichen Zusammenlebens nach dem Armageddon: „Die Häuser, Straßen, Brücken und Hochhäuser waren zerstört worden und gemeinsam mit ihnen hatten sich auch die Staaten, Parteien, Firmen, Organisationen, Gremien und Institutionen aufgelöst, die nicht zuletzt die Mitmenschlichkeit zerstört hatten. Und die Menschen kamen einander wieder näher, nicht nur körperlich, sondern auch im Geiste: Denn die Mauern, die die Menschen in Gestein aufgebaut hatten, existierte längst auch in ihren Köpfen. Und jetzt gab es nichts mehr, was die Menschen trennte.“

So kommt es also nicht von Ungefähr, dass der letzte Titel der CD „Юродивий“ benannt ist. Das russische Wort bezeichnet einen Schwachsinnigen, einen Narren – auch in der Bedeutung eines Narren, der ungestraft die schreckliche Wahrheit sagen darf.

Da könnte man an Erasmus von Rotterdams „Lob der Torheit“ (1509) denken, für den „in der heilsamen Torheit die wahre Weisheit und in der eingebildeten Weisheit die wahre Torheit“ lag. Dabei sollte man jedoch nicht außer Acht lassen, dass das, was dann später Narrenfreiheit genannt wurde, keine Errungenschaft des Christentums ist. Das Recht, in der Kunst Charaktere darzustellen, die respektlos gegen Götter und Menschen sind, gab es schon in der Antike. Was später, seit der Renaissance, nur der „Narr“ (Hofnarr) durfte, ist Aufgabe jedes Denkers: Hinzuweisen auf den verkommenen Zustand der menschlichen Gesellschaft und Fingerzeige zu geben, woher das Übel rührt. Eine von Gábor Gadós Antworten: „Byzantinum“.

Es scheint folgerichtig, dass einzelne Titel der CD auf diesen bewusst geschaffenen Kontext Bezug nehmen. – Beispiele?

„Mirandola“ thematisiert Giovanni Pico della Mirandola (1463-1494), den großen, sehr früh verstorbenen Philosophen der Renaissance.
Mirandola war der erste Christ, der, ohne selbst jüdischer Abstammung zu sein, sich intensiv mit der Kabbalah befasste. In Rom wollte er 900 philosophische und theologische Thesen, die er verfasst hatte, öffentlich vor allen interessierten Gelehrten der Welt verteidigen. Er lud zu einem großen europäischen Kongress ein, der in Anwesenheit des Papstes und des Kardinalskollegiums stattfinden sollte. Sein Ziel war, eine fundamentale Übereinstimmung all jener philosophischen und religiösen Lehren aufzuzeigen, die letztlich alle im Christentum enthalten seien, und damit zu einer weltweiten Verständigung und zum Frieden beizutragen. Die für Januar 1487 geplante öffentliche Disputation fand jedoch nicht statt, denn Papst Innozenz VIII. setzte eine sechzehnköpfige Kommission ein, die die Rechtgläubigkeit der in den Thesen vertretenen Auffassungen prüfen sollte. Mirandola war nicht bereit, vor der Kommission zu erscheinen. Nach heftiger Debatte kam die Kommission zu dem Ergebnis, dreizehn der Thesen seien häretisch und sollten daher verurteilt werden. Die Musik Gábor Gadós spiegelte die dramatische Dynamik des Geschehens, die sich aufschwingende Hoffnung, Wendungen hin zu Zweifeln, Attacken der Gefahr, das aufbrechende Licht des Optimismus und den Sturz in die Tiefen der Niederlage wider – und dies in fünf Minuten und einundfünfzig Sekunden.

„Avicenna“ ist dem berühmtesten Philosophen und Naturwissenschaftler „des Islam und vielleicht aller Zeiten“ (George Sarton), Abū Alī al-Husayn ibn Abdullāh ibn Sīnā (980-1037), gewidmet – gestaltet mit sanften Saxofon-Gitarrre-Unisono-Läufen, (wahrheits)suchend, tastend, ...

Das Titelstück schließlich vermittelt im Ensemblespiel von Klarinette, Bassklarinette, Bass, Drums eine stakkato-artige Heiterkeit, die – nun auch kommt Gadós Gitarre ins Spiel – zu quirligen, lebendigen Verlockungen und Zweifeln führt, um im Duo von Saxofon und Gitarre einen Drachentanz zwischen Bedrohung und Verheißung zu gestalten – das Ende bleibt offen.

Gábor Gadós „Byzantinum“ – das ist kein Jazz. Das ist ein Fanal der Musikgeschichte.



Gábor Gadó: Byzantinum, BMC CD 137

Der Text von Miklós Dolinszky auf Deutsch in einer Grobübersetzung aus der alt-englischen Version hier.

Montag, 20. April 2009

„Erstbgegnung“ mit Savina Yannatou im Neuen Sächsischen Kunstverein Dresden


Savina Yannatou. (Foto: PR/J.L. Diehl)

In der seit längerem laufenden, vom Dresdner Schlagzeuger Günter Baby Sommer künstlerisch geleiteten Konzertreihe „Erstbegegnungen“ des Neuen Sächsischen Kunstvereins kommt es am 22. April 2009 (20 Uhr) zu einem Duo-Konzert mit Savina Yannatou, Griechenland, und Günter Baby Sommer.

„Die Welt steht Kopf, wenn Savina Yannatou mit einem kurzen Obertonintro das sardische Volkslied Ballo Sardo einleitet, um es fünf Minuten später in einer quietschend-jazzigen Kakophonie ausklingen zu lassen und gleich darauf hinter die orientalische Melodielinie eines libanesischen Wiegenliedes avantgardistische Polyphonie legt!“ – Die Yannatou ist eine namhafte Interpretin der klassischen Weltmusik, mit überragender Ausdrucksvielfalt in ihrer Stimme lässt sie jedes Lied zum Erlebnis werden.

Professionell singt Savina Yannatou seit 1979. Ihr künstlerisches Spektrum ist sehr breit: Sie tritt mit Werken moderner griechischer Komponisten auf und ist ebenso Interpretin von Werken der Vorklassik. Seit 1983 arbeitet sie mit dem Studio für Alte Musik zusammen, führt mit diesem Ensemble Werke des Mittelalters, der Renaissance, des Barock auf historischen Instrumenten auf. Sie komponierte Musiken für Tanz, Theater und Videowerke.

Besonders hervorgetreten ist Savina Yannatou allerdings mit ihren eigenen CDs, die sie meist gemeinsam mit ihrer Band „Primavera En Salonico“ herausgebracht hat – die letzten drei beim renommierten Münchner ECM-Label, darüber hinaus viele beim griechischen Lyra-Label.

Günter Baby Sommer, Dresdner Perkussionist und Schlagzeuger von Weltgeltung, kommt vom freien europäischen Jazz her, zu dessen maßgeblichen Protagonisten er seit dem Anfang der siebziger Jahre gehört. Sommer hat sich weltweit auch dadurch Reputation erspielt, dass er zunehmend für Künstler anderer Gattungen und Genres – für Schriftsteller, Schauspieler und auch Maler – zum kongenialen Musik-Partner wurde.

„Seit etwa 25 Jahren schon begegnen wir uns bei Festivals, wir sind also längst miteinander bekannt, aber noch nie haben wir mit einander musiziert“, erzählt Sommer. „Und jetzt kommt es zu einem gemeinsamen Konzert-Projekt“. Ein Perkussionist, der sehr auf Singbares und Melodisches orientiert arbeitet, und eine Sängerin, die firm in der Musik des gesamten Mittelmeerraumes und vertraut mit vielen Zeitepochen ist – von einer solchen „Erstbegegnung“ kann man sich vieles erhoffen.

Mehr über Savina Yannatou hier.

M. B.

Eintritt für Nichtmitglieder: 7 Euro.

Neuer Sächsischer Kunstverein e.V.
St. Petersburger Straße 2/Akademiestraße
01069 Dresden

Dienstag, 14. April 2009

Die 35. Freiberger Jazztage haben internationale und nationale Musiker von Rang im Programm


Spielt am 24. April 2009 mit seinem Trio + Sergej Starostin in Freiberg: Wladimir Wolkow. (Foto: Jekaterina Kusmina)

Der Faun feiert Ende April seinen 35. Geburtstag. Dieses Jubiläum nimmt er zum Anlass, um es richtig krachen zu lassen: Die 35. Freiberger Jazztage bieten ein Großaufgebot an internationalen und nationalen Jazzmusikern von Weltrang!
Das Rahmenprogramm für die große Feier beginnt schon am 18. April: Die Fotoausstellung „Jazz und Fotografie“ von Bernd Mast wird in der Petrikirche eröffnet.

Am Donnerstag, dem 23. April beginnen dann die „wirklichen“ Festspiele. Gemäß der Tradition der Jazztage beginnt die Geburtstagsfeier klassisch. Unter der Leitung von Jan Michael Horstmann trifft die Mittelsächsische Harmonie auf die Band „percussion-posaune leipzig“. „Beethoven meets Jazz“ verspricht, selbst die hartnäckigsten Klassikfreunde auf die Jazzschiene zu bringen, um sie auf das kommende Wochenende vorzubereiten. Der typische Big Band Charme und ein ausverkauftes Konzert werden garantiert.

Am Freitag um 20 Uhr beginnen dann die Hauptkonzerte im Theater. Arrival Tour, ein deutsch-amerikanisches Duo werden gemeinsam mit Manfred Hering am Saxofon und dem Stepptänzer Sebastian Weber das Publikum zum Staunen bringen. So flott, frech und trotzdem virtuos hat sich Jazz schon lange nicht mehr angehört! Das Volkov Trio aus Russland übernimmt den musikalischen Staffelstab. Mit der Unterstützung des Jazzstars und Sängers Sergej Starostin schaffen die vier russischen Musiker eine Verbindung zwischen Jazz und russischer Folklore, die selbst im tiefsten russischen Winter für heiße Töne sorgen. Vladimir Volkov ist in seinem Land ein Gott am Kontrabass - Starostin ein Virtuose der Stimmbänder. Wer Russland musikalisch einmal „anders“ erleben möchte, für den ist der Freitagabend ein Pflichttermin!
Um den ersten Tag beschwingt ausklingen zu lassen, tritt danach das SAX Quartett Dresden auf. Dieses Ensemble verjazzt jeden Song, der nicht niet- und nagelfest ist.

Auch für die kleinen Jazzfans ist wieder gesorgt: Anatolis musikalischer Zirkus lädt am Samstag um 10.30 Uhr in die BiB ein und bietet für Jung&Alt ein musikalisch-artistisches Programm zum Mitfiebern.
Um 17 Uhr lädt der weltbekannte Jazzpianist Chris Jarrett dann zu einem Sonderkonzert in das Stadt- und Bergbaumuseum ein. Selbst die wenigen Nichtkenner werden um ihn keinen Bogen machen können: Mit einer einzigartigen Mischung aus Klassik und modernem Jazz will Chris Jarrett nicht nur zum intensiven Zuhören sondern zum Erleben der Musik anregen. Als Inspirationsquellen nennt er u.a. Sergej Prokofiev, Charles Mingus und Frank Zappa.

Nach einer kurzen Verschnaufpause geht es dann um 20 Uhr im Mittelsächsischen Theater gleich weiter mit dem Ohrenschmaus. Niederländische Jazzmusik ist für den Großteil der deutschen Ohren noch jungfräuliches Neuland. Dabei haben unsere Nachbarn keinen Grund sich zu verstecken. Das deutsch-niederländische Quintett „Borderhopping“ zeigt an sich selbst, wie perfekt Rhythmusgruppen und Bläser zusammen agieren können. Dabei springen die fünf Musiker immer wieder über die Grenzen von zeitgenössischem und Fusion Jazz. Großartige Improvisationen treffen auf leidenschaftliche Melodien. Höhepunkt der Feierlichkeiten am Samstag stellt das „Composers United Ensemble“ dar. Die Idee hinter dem Projekt ist es, Jazzmusik durchzukomponieren: Jazzmusiker gelten sehr oft als grandiose Improvisationskünstler, ihr kompositorisches Talent wird dabei oft vergessen. Die Partygäste erwartet hier „Jazz mit orchestralem Sound“.
Danach lädt Jörg Hegemanns zu einer Fahrt mit dem Boogie-Woogie-Express ein. Die Gäste werden angehalten, das Tanzbein zu schwingen und die Nacht zu genießen.

Wer am nächsten Tag die nötige Kraft und einen starken Magen hat, kann sich von Blue Alley die Müdigkeit beim Dixielandfrühschoppen im „Fuhrmann“ wegpusten lassen.

Für die Spätaufsteher gibt es am Nachmittag noch das Abschlusskonzert der Jazztage. Sevda Azeri ist in ihrem Heimatland, Aserbaidschan, bereits ein Star. Mit ihrem Jazzensemble möchte sie die musikalische Tradition ihres Landes neu aufleben lassen und in die ganze Welt hinaustragen.

Die IG Jazz Freiberg (Sachsen) lädt alle Musikliebhaber zum Jubiläum der Freiberger Jazztage ein.

(Gert Schmidt)

Mittwoch, 8. April 2009

Der aus Weimar stammende Dichter, Musiker und Architekt Paul Thomas Bierau ist tot

Wie die Thüringische Landeszeitung vom 8. April 2009 meldete, verstarb der Dichter, Musiker und Architekt Paul Thomas Bierau in der Nacht zum 5. April im Alter von 50 Jahren. Bierau war Gründungsmitglied des Kunstvereins Apolda Avantgarde und Mitglied der Literarischen Gesellschaft Thüringen, die ihn als eines ihrer kreativsten und unkonventionellsten Mitglieder und als vitalen, lebensfrohen Dichter in Erinnerung behält: „Unvergessen sind seine fantasievollen, Genregrenzen überschreitenden Darbietungen zeitgenössischer amerikanischer Lyrik. In seinen Texten bekannte er sich zur Poesie des Alltags, zu Kneipen und Erotik.“ Bierau hatte noch viel vor: Für den 22. April plante er die Premiere seines Bauhaus-Programms „Hoppla, wir leben“.

Bierau trat bei seinen eigenen Programmen und darüber hinaus auch gemeinsam mit Jazz- und Bluesmusikern auf, so gleich zweimal vor einem reichlichen Jahr im Jazzclub Neue Tonne Dresden.
Am 8. März 2008 hatte er gemeinsam mit Charles Sammond das Programm „Allen Ginsberg: 50 Jahre ›Geheul‹ – Lyrik und experimenteller Jazz“ gestaltet und am 27. März 2008 musizierte er im Rahmen des Jazzwelten-Festivals im Bärenzwinger in Michael Lenhardts Bluesrock-Band.

Dienstag, 7. April 2009

Fado-Erlebnisse im herbstlichen Lissabon - Erinnerungen an Novembertage


Nächtlicher Blick von der Burg über die Stadt und den Tejo, im Hintergrund bläulich angeleuchtet als Pünktchen Cristo Rei, die die Stadt segnende, 28 Meter hohe Christus-Figur vor der Brücke „Ponte 25 de Abril“.

Nacht in Lissabon. Wer dächte da nicht an Fado? An jenen kunstvollen, häufig melancholisch wirkenden Gesang, der nur in Portugals Hauptstadt und – in abgewandelter Form – in der alten Universitätsstadt Coimbra zu finden ist?

Mit der polternden Kult-Elektrischen Nummer 28 geht es von der berühmten Aussichtsterrasse Miradouro Santa Luzia, in den Augenwinkeln der lichterfunkelnde, dunkle Tejo, hinunter durch die geometrisch wirkende Unterstadt bis hinauf zum Largo do Chiado, wo Fernando Pessoa als Bronzefigur vor dem bekannten Café Brasileira sitzt. Einige zig Meter weiter beginnt das Schlendern durch die engen, aber lebhaften Gassen des Viertels Bairro Alto, das voller kleiner Geschäfte, Cafés, Bars und Discos, Tanzschuppen und Fado-Clubs ist. Aufpassen ist angesagt – hier sind viele der Fadokneipen überteuert, und es gibt einen ständigen Kampf des Türpersonals um die Touristen. Gerade außerhalb der Hochsaison schallen die Rufe „Mister! Come in, we have a great and unforgetable Fado program!“ aus allen Türen – vor denen stehenzubleiben, und sei es auch nur, um die Speisekarte zu studieren, ziemlich riskant ist. Wer sich einmal im Innern eines solchen Lokals wiederfindet, darf zwar wirklich professionellen Fado-Gesang („fado profissional“) erwarten, aber nicht selten sind, zumindest außerhalb der Saison, viele Tische verwaist, die Atmosphäre wegen der gähnenden Leere wenig inspirierend. Der Bairrada-Wein im „O canto do Camões“ war gut, das Kalbsschnitzel ebenso, und die Sängerinnen Alzira Canede und Idalia Maria, ganz besonders aber José Luis boten schöne, inbrünstige Fados – aber was nutzte das angesichts der sechs Gäste in einem – wie üblich mit Azulejos prachtvoll gefliesten – Restaurant für achtzig Leute?

Dass in diesem Viertel Anfang November um jeden Gast gekämpft wird, leuchtete uns schnell ein... Aber irgendwie ein Teufelskreis... Weitere, bekanntere Lokale im Bairro Alto wie „Café Luso“, „A Severa“, „Adega Machado“ oder „A faia“ sind offenbar in einer ähnlichen Situation.

Anders wirkt die nächtliche Atmosphäre zwei Tage später in der Alfama. Im „Esquina de Alfama“, einer winzigen, volkstümlich-rustikalen Gaststätte ganz in der Nähe des noch jungen Fado-Museums, wird Fado Vadío geboten, dass heißt, jeder darf singen, der sich dazu berufen fühlt – und die Atmosphäre war göttlich, die Kneipe war krachend voll, die Luft vibrierte. Ein langer, dürrer, blonder Schlaks sang hingebungsvoll, trieb auch uns, die wir den Text nicht verstanden, die Tränen in die Augen, Inhaber und Sänger Lino Ramos, der umtriebige Macher dieses Ladens, stieg mit ein und riss zu Beifallsstürmen hin, die sofort aufbrandeten, kaum dass ein Lied zuende ging. Hinterm Tresen die silberhaarige grande dame des Hauses, Ivone Dias. Ob sie denn heute abend auch noch singe, fragte ich sie. Leider nein, kam zur Antwort, und Ivone lächelte unergründlich und mit niedergeschlagenen Augen, verbeugte sich, leider nein, denn sie sei heiser, und zur Bekräftigung klopfte sie, die Arme über die Brust gekreuzt, elegant mit Zeige- und Mittelfinger auf den Kehlkopf. Sie sei sehr gerührt von meinem Wunsch, ausgerechnet sie singen zu hören, und dafür sei sie mir sehr dankbar. „But because you can’t listen to me singing live tonight I give you this CD – especially for you!“ Und dann signierte Ivone die CD, versah sie mit einer Widmung und überreichte sie mir feierlich. – Nun, gegen Mitternacht, als die Zeit der (Ab)Rechnung nahte, fand ich die CD mit 15 Euro berechnet... Ungläubig las ich diese Summe, denn ich hatte angenommen, es wäre ein Geschenk... Dann schüttelte ich den Kopf und sagte, auch zum eigenen Trost: „Geschickt angestellt hat sie es ja...“

Erneut verblüfft war ich wenige Tage später, als ich daheim die Lissabon-Reise mit einem Merian-Führer nachbereitete. Dort las ich in dem Beitrag „Die Sucht nach der Sehnsucht“ über einen Besuch des Fado-Lokals „Fermentação“, ein Lokal, auf dessen Vorplatz Fado auch für die vor der Türe an kleinen Tischen sitzenden Gästen geboten wird, folgendes:
„Ana hatte während der Darbietung heftig mit meiner Begleiterin geflirtet. Nach ihrem Auftritt erkundigte sie sich nach ihrem Namen, schreibt eine Widmung auf eine CD und überreichte sie als Geschenk. Als wir die Rechnung begleichen, ist das Geschenk mit 30 Euro ausgewiesen – umsonst ist auch der schönste Fado nicht.“

Da bin ich ja noch billig weggekommen, dachte ich mir. Und, unsere Lissabon-Eindrücke noch im Hinterkopf: Wie muss es wohl gegenwärtig um den Fado bestellt sein?


Der portugiesisch-englischsprachige Fado-Führer Lissabons, „Roteiro de fado de Lisboa“ („Lisbon fado’s guide“ – Ausgabe November 2001, erhältlich im Fado-Museum auf dem Largo do Chafariz de Dentro), listet 50 Fado-Lokale auf, die meisten in den Stadtvierteln Bairro Alto und Alfama, aber auch in der Mouraria und in Madragoa sowie in weiteren Vierteln. Das Museum heißt offiziell „Casa do Fado e da Guitarra Portuguesa" (Haus des Fado und der portugiesischen Gitarre).