Montag, 19. Januar 2009

Dresdens Jazz-Legende Günter Hörig gestorben

Erst kürzlich, am 21. November 2008, gab Günter Hörig (l.) gemeinsam mit seinem Sohn Tobias ein Jazz-Konzert an zwei Klavieren. (Foto: Weinbergskirche Dresden-Trachenberge)

Der Jazzpianist, Komponist, Bigbandleiter und Hochschullehrer Günter Hörig ist tot. Er verstarb knapp 82-jährig am 17. Januar 2009. Mit Professor Günter Hörig verliert die deutsche Jazzszene einen ihrer profundesten Protagonisten der ersten Stunde, einen der fähigsten Jazzpädagogen und den wichtigsten Aktivisten für die Etablierung einer Nachkriegsjazzszene in Dresden.

Kaum ein Musiker hat in dem solchen Ausmaß wie Günter Hörig die Entwicklung des modernen Nachkriegsjazz in der DDR geprägt. Bereits 1947 hatte Hörig ein blutjunges Jazzsextett, als der Pianist 1952 die 1946 von Joe Dixie gegründeten Tanzsinfoniker übernahm, gab er damit gleichzeitig gemeinsam mit Gesinnungs- und Orchestergenossen den Startschuss für eine in jenen Jahren stilbildende Art des Jazzmusizierens in der DDR: Gespielt und in gewissem Maße somit auch propagiert wurden – damals zu Recht viel umjubelt, aber teils von den Kulturpolitikern beargwöhnt oder gar staatlichen Repressalien ausgesetzt – Swing und einige Jahre später auch gemäßigte Moderne in einem hochartifiziellen, konzertant anmutenden Gewand.

Günter Hörig begründete 1962 gemeinsam mit einigen „seiner“ Tanzsinfoniker und weiteren Mitstreitern an der Dresdner Musikhochschule die Fachrichtung Tanz- und Unterhaltungsmusik, aus der die heutige Fachabteilung Jazz, Rock, Pop hervorging. Das war deutschlandweit die erste Einrichtung, an der eine Vollausbildung Jazz, Rock, Pop mit Diplomabschluss angeboten wurde. Professor Rainer Lischka, Komponist, Musiktheoretiker, Arrangeur und selbst dem Jazz zugeneigt, betonte in seinem Rückblick anlässlich der offiziellen Verabschiedung auch Hörigs aus dem Lehrerteam der Musikhochschule vor zwei Jahren: „Akademische Erfahrungen fehlten damals gänzlich, so dass die Unterrichtsgestaltung, Lehrpläne und die dazugehörigen Stundentafeln erst entwickelt werden mussten. Das alles wurde mit viel Elan, Phantasie und Durchsetzungsvermögen geschafft. Dass dabei der Jazz immer an vorderster Stelle stand, ist vor allem Günter Hörigs Persönlichkeit und Autorität zu danken.“

Da Günter Hörig von Anfang an, zunächst als Student, dann als Lehrer, mit „seiner“ Dresdner Musikhochschule verbunden war, gingen Musikanten- und Lehrerleben Hand in Hand – für viele seiner Studenten eine glückliche Fügung. Auch als sich ab der Mitte der sechziger, Anfang der siebziger Jahre in der DDR das Spektrum der Stile und Spielauffassungen durch die Herausbildung von Freejazz und Jazzrock Schritt für Schritt zu verbreitern begann, stand Hörig unbeirrbar für den Grundsatz „Handwerk hat goldenen Boden“ – ein Prinzip, für das besonders Dresden und seine Musikhochschule bekannt wurde.

Wenn - um im Bereich des Jazz zu bleiben - zwei der wichtigsten Innovatoren des freien europäischen Jazz, Baby Sommer und Conny Bauer, ihr „Handwerk“ in den sechziger Jahren in Günter Hörigs Tanzmusikabteilung der Dresdner Hochschule erlernten, spricht dies für den Nestor des Dresdner Swingpianos und seine Kollegen.

Günter Baby Sommer: „Für mich ist mit dem Tode von Günter Hörig die für den frühen Dresdner Jazz wichtigste Person gegangen. Günter Hörig hatte sich nicht erst mit dem Aufbau und seinem Wirken an der Abteilung Tanz- und Unterhaltungsmusik der Dresdner Musikhochschule große Verdienste erworben, sondern schon in den fünfziger Jahren, als er entscheidend als freischaffender Jazzer zur Herausbildung einer Dresdner Jazzszene beitrug.“ Auch wenn, so Sommer weiter, Günter Hörig auf anderen stilistischen Gebieten als Sommer selbst unterwegs war, könne man nicht genug die innovatorische Leistung Hörigs der damaligen Zeit herausstreichen.

Stets fühlte sich Günter Hörig auch bis ins Alter hinein inmitten seiner Studenten – und zunehmend Absolventen – wohl, und denen machte es Spaß, mit dem Meister zu musizieren. Noch in den letzten Jahren standen Jüngere gemeinsam mit Günter Hörig auf Dresdner Bühnen und brachten Zuhörer „zum Kochen“. Immerhin: Das Dresdner Publikum wertschätzte, was Günter Hörig, der als Komponist nicht nur Jazz-Concertos, sondern auch Bühnen- und Filmmusiken geschaffen hat, mit einigen seiner ehemaligen Schüler an swingendem Modern-Bop-Feuerwerk so drauf hatte.

Günter Hörig hatte einst, Ende der vierziger, Anfang der fünfziger Jahre, persönlich erlebt, wie mit dem Orchester Heinz Kretzschmar eine Jazzband aus (pseudo-) politischen Gründen de facto aufgelöst wurde. Dass es ihm - sowohl als Hochschullehrer als auch als Orchesterleiter - in all den Jahren immer gelungen ist, „seinen“ Jazz in Dresden vor Anfechtungen zu schützen, ist sicher auch eines seiner Verdienste. Wenn Studenten heute John Coltrane, Peter Brötzmann, Thelonius Monk oder Cecil Taylor üben und Schlagzeug-Professor Baby Sommer weltweit zu den renommiertesten Perkussionisten zählt, sollte man auch an diese Art „Vorleistung“ Hörigs denken.

Mathias Bäumel

Donnerstag, 8. Januar 2009

Mit Fermáta ist die weniger bekannte, aber beste Band des früheren „Ostens“ wieder aktiv

Fermáta heute und in den endziebziger Jahren. (Foto: www.fermata.sk)

Mit Fermáta ist die nicht allzu vielen Fans bekannte, dessen ungeachtet aber beste Progressiv-Rock-Jazz-Band des früheren „Ostens“ seit einigen Jahren wieder aktiv. Gemeinsam mit dem mystischen, in seiner künstlerischen Eindringlichkeit weltweit unerreichten Czeslaw Niemen aus Polen und den schmissigen, weit ausholende Melodien, deftige Gitarrenriffs und die große Rock-Show-Gestik liebenden ungarischen Omega bildete die slowakische Band Fermáta mit ihrer kompositorischen, jazznahen Feinsinnigkeit, den rockjazzig-gitarristischen Qualitäten und ihrem künstlerischen Konzept, das sich Jahrzehnte dem herkömmlichen Rock-, Pop- und Jazzmarkt verweigerte, die große Dreiheit der Rockmusik hinter dem einstigen „eisernen Vorhang“.

Die seit 1973 existierende Band aus Bratislava war von Anfang ein Sammelbecken slowakischer Top-Rockmusiker. Chef und Gitarrist František Griglák kam von Pavol Hammels Band „Prudy“, der allerersten slowakischen Pop-Rock-Band überhaupt (Hit „Abrakadabra“), zu der auch Fedor Frešo, später dann Fermáta-Bassist, gehörte. Nachdem Griglák von 1971 bis 1972 mit seinem E-Gitarrenspiel den anfangs eher hausbacken-possierlichen Klassikrock-Sound von Collegium Musicum mit Spannung und Dynamik versehen hatte (er spielte Gitarre auf dem berühmten weiß-blauen Doppelalbum „Konvergencie“, auf dem auch Fedor Frešo mitgewirkt hatte) , gründete er 1973 gemeinsam mit Tomaš Berka seine Gruppe Fermáta. Frešo, bis Ende der siebziger Jahre der Standardbassist von Collegium Musicum, stieß dann 1980 dazu.

Griglák erinnert sich: „Ich verließ Collegium Musicum, weil meine Vorstellung von Musik sich von den Vorstellungen in der Band unterschieden, außerdem konnte ich mich mit meinen künstlerischen Ansprüchen gegen einen solch dominanten Solisten wie Marián Varga, den Chef und Keyboarder von Collegium Musicum, nicht durchsetzen.“ Und das wollte Griglák auf jeden Fall, denn sein musikalischer Horizont war viel weiter als der von Varga und nicht nur auf die bombastrockige Umsetzung von Barock- und Romantik-Mustern orientiert. „Fermata“ heißt Griglák zufolge „Bus- oder Straßenbahnhaltestelle“ auf italienisch, und im Hinblick auf den Bandnamen bedeute es „Stopp, wenn man mir als Musiker übel nachredet – bis hierher und nicht weiter! – Fermáta!“ Griglák, der sich damit offenbar auf die Verhältnisse innerhalb der Band Collegium Musicum bezog, machte ab da sein eigenes Ding!

Die Band hatte 1975 ein vielbeachtetes Debütalbum („Fermáta“), das Einflüsse von King Crimson und John MacLaughlin ebenso erkennen ließ wie eine Vorliebe für konzeptionell gestaltete Alben, eine Tendenz, die mit den darauf folgenden LPs noch viel deutlicher wurde. Entdecker, die sie selber waren und sind, machten die Musiker um Griglák und Berka Entdeckerisches zum thematischen Mittelpunkt ihrer Konzeptalben. Ent-Deckungen, also das Sicht-, Nutz-, Urbar- und Heimischmachen von bisher unbekannten Gefilden als musikkonzeptionelles Prinzip – das machte von Anfang an Fermáta zu etwas Besonderem.

Das zweite Album („Piesen z Hôl'“, 1976) unternimmt symbolisch und musikalisch Reisen durch slowakische Natur- und Brauchtumslandschaften, streunt durch einsame Täler und über letztmalig abgehaltene Märkte, besucht eine Hochzeit auf einer Bärenwiese und lauscht den klingenden Glocken des Städtchens Zvolen – alles selbstverständlich im harten Rockgewand, mit volksmusikantischen Elementen, die wie ferne Erinnerungen aufklingen, und jazzigen Improvisationen auf Top-Niveau.

Insbesondere mit ihrem dritten Album – „Huascaran“ (1977) – erreichte Fermáta einen Kultstatus wie kaum jemals eine weitere Band der früheren ČSSR. Die Band – seit jener Zeit im Volksmund als „Mahavishnu Orchestra des Ostens“ bezeichnet – brillierte mit einer ganz eigenen Stilistik, die man mit Begriffen wie Progressive Rock, Hard Rock und Jazz-Rock, aufgemischt und durchdrungen mit den melodisch-motivischen Essenzen slowakischer Folklore, umreißen könnte. Spätestens von dieser Platte an hatte Fermáta nicht nur ihre eigene Ursprungsband Collegium Musicum, sondern überhaupt sämtliche Art- und Prog-Rockbands inklusive Emerson, Lake and Palmer künstlerisch weit hinter sich gelassen! Allerdings – typisches Schicksal – von der westeuropäischen Öffentlichkeit völlig unbeachtet... »Huascaran« war eine außerordentlich beeindruckende Platte, voller Rockwucht und weit ausgreifender Melodien... Gewidmet ist das Werk einer tschechoslowakischen Hochgebirgsexpedition, die am 31. Mai 1970 am peruanischen Huascaran, dem mit 6768 Metern vierthöchsten Berg Südamerikas, tragisch endete: die 15-köpfige Bergsteigermannschaft wurde bei einem Bergsturz unter meterhohen Geröllmassen begraben. Entdecker-Thematik – diesmal tragisch.

Ent-Deckungen historischer Art bilden den thematischen Rahmen der LP „Dunajská Legenda“ (1980): Hier stehen mit Wlkina, Chotemir, Witemir, Unzat und weiteren jene altslawische Fürsten aus dem 9. Jahrhundert im Mittelpunkt, die wichtig für die Christianisierung des Gebietes zwischen dem Plattensee und der heutigen Slowakei vor der Landnahme durch die Ungarn waren – jedem dieser Ur-Slawen ist eine Komposition gewidmet, wobei das Gesamtwerk durch große stilistische Vielfalt besticht: von energetischem Jazzrock mit faszinierenden E-Gitarren-Improvisationen über lyrische, neo-romantische Passagen bis zu deftigem, intelligenten Funk und Art Rock ist alles dabei.

Um geografisch größere Zusammenhänge geht es auf der fünften Fermáta-LP „Biela Planéta“ (1980). Der weiße (nicht etwa blaue) Planet stellt die Erde als einen Ort dar, der noch unentdeckt und unerforscht ist („weiße Flecken“), die zupackende, abwechslungsreiche, teils songartige, immer mit faszinierenden Gitarren-Soli durchwirkte Musik ist denjenigen gewidmet, die in früheren Zeiten entscheidend mitgeholfen haben, aus dem weißen Planeten das zu machen, was er heute ist: unsere Erde. Es geht um die großen Entdecker James Cook, Vasco da Gama, Christoph Kolumbus, Ferdinand Magellan, David Livingstone und weitere.

Anfang der 80-er Jahre zeichneten sich Veränderungen ab. Griglák: „Wir fühlten uns damals unter Druck, weil unsere Musik für normale Hörer zu anspruchsvoll war.“ Mit der LP „Generation“ (1981) deuteten sich Veränderungen in Richtung Pop an – trotz des auf dieser Platte enthaltenen grandiosen Titels „Viňa Del Mar“, den die Band auch heute immer noch mit Erfolg spielt. Griglák weiter: „Von Anfang an sind wir in der Öffentlichkeit – nicht vom harten Kern unserer Fans – dafür kritisiert worden, dass wir nur instrumentale Stücke spielen.“ So wollte die Band damals etwas für sie Neues ausprobieren und spielte nun ein Album ein, das nach dem Allerweltsmuster „Rockgruppe inklusive poppiger Rockgesang“ gestrickt war – „ad libitum“ (1984), dessen Veröffentlichung František Griglák im Nachhinein für einen Fehler hält. Auch die folgenden Alben bis in die Mitte der 90-er Jahre hinein („Simile...“, 1991; und „Real Time“, 1994) konnten nicht die Qualität der früheren Fermáta-Werke halten.

Erst „X“ (1999), das 10. Album der Bandgeschichte, weckte wieder Hoffnungen, dass die Band an alte künstlerische Größe wieder anknüpfen könnte.
Schon seit Beginn der 80-er Jahre hatte es etliche Besetzungswechsel bei Fermáta gegeben, über einige Jahre existierte die Band quasi nicht. Einige neue Versuche, zu Beginn und zum Ende der 90er Jahre, scheiterten relativ schnell.

Eine Art Neustart fand 2005 mit dem Album „Next“ (2005) statt. Als CD-Autor ist „Fero Griglák & Fermáta“ angegeben, was die besondere Rolle des Supergitarristen und Komponisten herausstreicht, obwohl für das Wiederaufleben der Band Ur-Mitglied, Bassist und Manager Fedor Frešo organisatorisch eine entscheidende Rolle spielte.
Und seit Herbst 2007 ist Fermáta auch auf den Bühnen der Slowakei und Tschechiens wieder zurück. In der Besetzung František Griglák (g, prog), Peter Preložnik (keys), Fedor Frešo (b, b-ped) und Igor Skovay (dr) gab die Band am 14. Oktober 2007 im Zrkadlom-Club in Bratislava, Slowakei, ein vielumjubeltes Konzert, das nun seit einigen Monaten auf CD und DVD (übrigens als erstes Live-Album in der mittlerweile über 35-jährigen Bandgeschichte) vorliegt („Fermáta Live v Klube za zrkadlom“).

Hervor sticht der Titel „For Huascaran“, eine Essenz des 39-minütigen Konzeptalbums aus dem Jahr 1977. Im Anschluss folgen alte und neuere Stücke. Fermáta klingt heute nicht mehr wie 1975. Der Anteil sinfonischer Strukturen ist gegenüber Jazzrock oder Jazz-Fusion, der mal heftiger, mal leichter und luftiger sein kann, in den Hintergrund getreten. Die Band klingt für heutige Ohren im Sound mehr wie eine harte Rockband mit 80-er-Synthi-Touch, hinsichtlich der musikalischen Strukturen aber ziemlich jazznah. František Griglák ist als Gitarrist ungemein souverän, seine stilistischen Fertigkeiten und handwerklichen Mittel sind grandios, er kann Jazz, Rock und Jazzrock locker, sanft und hart spielen, hat ein Faible für ausgedehnte, flüssig gespielte, harmonisch abwechslungsreiche Soli.
Das neuere Material ist etwas melancholischer, lyrischer, der Jazzrock hat manchmal einen Latino-Einschlag, die heutige Fermáta-Band spielt die Songs nicht, wie sie auf den originalen Alben enthalten sind. Auf der Bühne fließen lange, expressive Soli und Improvisationen ein, ohne dass die Stücke dabei überaus lang würden. Von den späteren Stücken überzeugt gerade im Live-Konzert das grandiose Griglák-Stück „Viňa del Mar“, dessen Live-Zelebrierung zum Erlebnis wird. Die einzige und erste Fremdkomposition in der Geschichte Fermátas, die die vier im Konzertprogramm haben und die auf der 2007-er Live-CD enthalten ist, stammt aus der Feder Dežo Ursinys, von dessen grandiosem 1972-er Album „Provisorium“: „Apple Tree in Winter“. Das Stück spielt Fermáta in Gedenken an den 1995 verstorbenen Doyen der slowakischen Rockmusik, mit dem einst Fedor Frešo von 1967 bis 1968 in der Band The Soulmen gemeinsam gespielt hatte. Was im 1972-er Original bei Ursiny selbst ein zerbrechlich klingender, fein ziselierter, kammermusikartig gebauter Rocksong mit Beatles-Anklängen und Robert-Wyatt-Touch ist, wird heute bei Fermáta in völlig anderem Arrangement und strukturell verändert zu einem Hohelied auf kraftvoll-melodischen Gitarrenjazzrock.

Mathias Bäumel
(Dank an Volkmar Mantei)

PS.: Deutschlandpremiere! Fermáta gibt am Donnerstag, den 26. März 2009, in Dresden ein Konzert im Dresdner Universitätsklinikum. Es ist das allererste Fermáta-Konzert in Deutschland überhaupt, auch in der DDR konnte die Band nie auftreten.

Achtung: Am 11. Oktober 2012 ist diese Aussage hier korrigiert worden!